VON BERUF VERTEIDIGERIN

„Erika meint, sie müsste mit 82 noch eine Kreuzfahrt machen! Spinnt die? Und das mit ihrer angeschlagenen Hüfte!“
„Andreas hat jetzt seinen Beamtenposten aufgegeben. Ohne Not!“

Eigentlich fällt mir zu allem etwas ein, aber wenn ich solche Sätze höre, beobachte ich, wie mich Sprachlosigkeit überfällt. Nicht allein, dass es mir nicht möglich ist, die Empörung zu teilen, ich kann den Gedankengang an sich schon nicht nachvollziehen. Wie kann ICH wissen, was den Anderen beschäftigt und bewegt? Warum beurteilen und bewerten, was ich nicht beurteilen und bewerten kann?

Der Schriftsteller Stefan Zweig hat einmal gesagt „Ich ziehe es vor, Verteidiger von Beruf zu sein. Mir persönlich macht es mehr Freude, Menschen zu verstehen als sie zu richten.“ Der Gedanke nicht zu richten ist weit älter als der Ausspruch von Stefan Zweig. Aber seine Formulierung spricht mich sehr an. Ich bin sicher, ich hätte ihm schon als Kind vollen Herzens zustimmen können. Vielleicht, weil ich schon früh selbst erfahren musste, wie es sich anfühlt, beurteilt und bewertet zu werden. Und egal ob es die Urteile meiner Eltern, meiner Mitschüler oder meiner Lehrer waren, sie sind mir alle nicht gerecht geworden! Ihr Urteil war meist falsch und ungerecht. Aber schon damals sind mir auch jene begegnet, die von Beruf Verteidiger waren: Meine Klassenlehrerin Frau Seiler. Ein Gemeindepädagoge, dessen Namen ich nicht mehr erinnere (aber wohl sein Gesicht!), auf einer Kindergottesdienst-Mitarbeiter-Schulung. Pfälzi, mein Schulbusfahrer, der aus der Oberpfalz stammte. Wenn ich an diese Menschen denke, spüre ich ein Ziehen in der Brust. Wie Berührung. Wie Liebe. Wie Dankbarkeit. Und dieses Ziehen spüre ich umso stärker, als mir bewusst wird, wie lange ich mich selbst verurteilt und abgewetet habe. Vielleicht rührt daher meine Sprachlosigkeit. Weil ich sie ja kenne, die inneren Maßstäbe und Messlatten, die Standards und Normen, denen kein Mensch je gerecht werden kann und die umgekehrt auch unserem Menschsein nie gerecht werden. Andere zu beurteilen und zu bewerten war nie meins. Und mich selbst zu verurteilen und abzuwerten habe ich mir abgewöhnt. So wachse ich immer mehr in den Beruf der Verteidigerin hinein, finde meine Sprache wieder und kann aus vollster Überzeugung sagen: „Mir persönlich macht es mehr Freude, Menschen zu verstehen, als sie zu richten.“